„Die jüngere Generation bekommt heute für die gleiche Arbeit viel weniger, als die ältere Generation“

Dinslaken. Sahid reinigt seit 18 Jahren tagtäglich die Berliner U-Bahnhöfe. Er beseitigt Dreck, Kotze, Urin. Sein Lohn reicht soeben, um seine Familie zu ernähren. Alexandra ist studierte Musikerin, ihr Mann Richard ebenfalls. Beide unterrichten freiberuflich. Eine Festanstellung an einer Musikschule gibt es nicht. Auch sie können gerade ihre Familie versorgen. Es darf nichts Unvorhersehbares passieren. Krank sein, geht nicht. Die Autorin und Journalistin Julia Friedrichs hat diese beiden Familien ein Jahr begleitet. Es sind Menschen, die zur „Working Class“ gehören. Menschen, die arbeiten, Steuern zahlen und zeitlebens auf keinen grünen Zweig kommen werden. Aber warum? Diese Frage versucht die Autorin in ihrem Buch „Working Class“ zu ergründen. Ihre Thesen und die Einblicke in das Leben der „Working Class“ stellte sie jetzt bei einer Lesung im Rahmen des Aktionsjahres „Kein Kind in Armut“ der Diakonie im Ev. Kirchenkreis Dinslaken vor. In der anschließenden Diskussion mit Dr. Nikolaus Schneider, EKD-Ratsvorsitzende a.D., ging es unter anderem um die Generationen-Unterschiede. „Eine Studie der OECD belegt: Je später man geboren wurde, umso schwerer ist es, allein aus Arbeit den Schritt in die gesellschaftliche Mitte in unserem Land zu schaffen“, berichtete die Journalistin. „Die jüngere Generation bekommt heute für die gleiche Arbeit viel weniger, als die ältere Generation“, bestätigte Nikolaus Schneider. Man müsse sich nur beispielsweise die Kettenverträge der Beschäftigten an den Hochschulen anschauen. Er hoffe aber, dass der aktuelle Arbeitskräftemangel zu einem Umdenken führe. „Die Menschen, die im Dienstleistungssektor, als Solo-Selbstständige etc. arbeiten, bekommen nichts vom Wohlstand des Landes mehr ab. Und trotzdem tragen sie zum Sozialstaat bei, zahlen direkte und indirekte Steuern“, so Julia Friedrichs. Diese Familien würden jetzt in der Energiekrise Hilfe benötigen. Dies sei bei einer breiten Masse der Fall. „Die Politik ist gefragt“, so der EKD-Ratsvorsitzende a.D. „Auch die Kirche kann ihren Beitrag leisten, und sie wird ihren Beitrag leisten“, erläuterte er weiter. Man werde auch Schulterschlüsse suchen müssen. Grundsätzlich gebe es aber Veränderungspotential in der Gesellschaft. Auch bei Alexandra und Richard hat sich etwas verändert. „Ich habe mit der Familie telefoniert. Richard hat erstmalig eine Festanstellung bei einer Privat-Schule erhalten. Sie haben das erste Mal ein Gefühl von Sicherheit“, berichtete die Autorin zum Abschluss des Abends.

Foto/Henkel: v.l. Autorin Julia Friedrichs und Dr. Nikolaus Schneider, EKD-Ratsvorsitzender a.D.